Was die Brexit-Diskussion überdeckt

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In den letzten Tagen sind die Kurse an den europäischen Aktienmärkten unter Druck gekommen. Nicht ganz überraschend, denn wie wir in unserer Investmentmeinung am Montag ausgeführt haben, ist zu erwarten, dass Anleger sich gegen eine negative Überraschung aus einem möglichen Brexit absichern (müssen). Doch unseres Erachtens erscheint es fraglich, ob man alles auf den Brexit schieben sollte. Denn es laufen parallel auch noch andere Prozesse.

Da wäre zunächst eine harmlose Headline: "Toyota kann sich zu 0,001% refinanzieren"*. Da muss man doch in Tokio jubeln, genauso wie in vielen anderen Konzernzentralen. Wo man früher 5% und mehr für langfristige Finanzierungen berappen musste, finanziert man sich inzwischen für 0% (3 Jahre) oder weniger als 0,5% (20 Jahre). Eine erhebliche Kostenreduktion, die im Gegenzug die Gewinne steigen lässt ... Also, schnell mal einen Blick auf das Chart von Toyota geworfen und dann die Ernüchterung: fast 40% Kursverlust in 12 Monaten! Irgendwie wirkt der niedrige Zins nicht wie gewünscht. Was läuft da schief?

Apropos "schieflaufen": auch für die Banken läuft es nicht gut. Ein Blick auf die Charts von Deutsche Bank, UBS, Credit Suisse und selbst Goldman Sachs und man ist ernüchtert. Die Aktien befinden sich in intakten Abwärtstrends und bei den ersten drei genannten Aktien stehen sogar mögliche Abwärts-Ausbrüche auf der Agenda, die psychologisch betrachtet Existenzängste bei den Aktionären wecken könnten. Ein Blick in die Zeitung offenbart den Grund. So sind in den letzten Tagen die Deutsche Bank und die Commerzbank mit sehr negativen Statements zur Geldpolitik der EZB auffällig geworden und fordern diese zur Umkehr auf! Als Aktionär ruft man da besser nach einer Versicherung.

Ach ja, Versicherungen. Auch ein Blick auf deren Charts, ob Allianz, Münchener Rück oder AXA, signalisiert ähnlich wie bei Banken ein steigendes Ungemach. Der ehem. Chef der Münchener Rück hat der EZB schon vor Monaten die Leviten gelesen und diese zur Umkehr aufgefordert. Aber seine Branche schmort weiter vor sich hin und verzehrt die Reserven, während Mario Draghi unbeirrt davon ausgeht, dass die gleiche Dosis einer Medizin die nicht wirkt, am Ende doch wirkt wenn man zur Überdosis greift.

Vielleicht sollte Mario Draghi sich das folgende Chart anschauen. Dargestellt ist die US Kapazitätsauslastung im verarbeitenden Gewerbe (blau), die Zinsdifferenz 10 zu 2jährigen US-Staatsanleihen (grün) und die 10-Jahres US-Rendite (orange).

US Kapazitätsauslastung, US Zinskurve (10-2) und US 10J Rendite

Dieses Chart erklärt eigentlich das Wesentliche.  Die ganze Dynamik und gegenseitige Abhängigkeit von Wirtschaft, Geldpolitik (Zinskurve) und absolutem Zinsniveau ist erkennbar. Ausgangspunkt ist eine steigende grüne Linie, denn sie bedeutet, dass die Notenbank die kurzen Zinsen senkt und damit (a) das Zinsniveau als ganzes drückt und (b) durch eine steigende Kurvensteilheit eine positive Zeitpräferenz erzeugt.

Denn eine steile Kurve, also eine möglichst positive Differenz zwischen langen und kurzen Zinsen, signalisiert der Wirtschaft, dass Geld derzeit billiger zu haben ist, als es dem Wachstumspotential der Wirtschaft und / oder der künftigen Inflation entspricht. Die Folge: es wird mehr investiert, die Wirtschaft springt an, es werden Einkommen generiert und die Kapazitäten zunehmend besser ausgelastet.

Die zweite Etappe folgt, wenn die Wirtschaft höher ausgelastet ist. Die Zinsen fangen an zu steigen und die Notenbanken erhöhen irgendwann die kurzen Zinsen. Die Folge: die Wirtschaftsdynamik nimmt ab und die Zinskurve verflacht sich. Wenn die Kurve sich genug verflacht hat und / oder die Zinsen genug gestiegen sind, beginnt die Wirtschaft unter Potential zu wachsen und die Kapazitätsauslastung sinkt. Solange, bis wir eine Rezession haben und das Spiel von vorne beginnt.

Die zuvor beschriebene Dynamik scheint Mario Draghi vor Augen zu haben, wenn er durch seine ultralockere Geldpolitik die Wirtschaft anzukurbeln gedenkt. Doch was machen die Zinskurven derzeit: sie verflachen sich. Denn das viele Geld sucht händeringend nach Anlagen und drückt die langen Zinsen nach unten. Damit wird eine wichtige Signalfunktion des Marktes ausgehebelt und es unterbleiben Investitionen. Zumal die Kapazitäten in der Weltwirtschaft ohnehin nicht voll ausgelastet sind. Betrachtet man dann noch die Lage in den USA, dann ist festzuhalten, dass trotz fallender langfristiger Zinsen in den letzten beiden Jahren jegliche positive Rückkopplung auf die Kapazitätsauslastung unterblieben ist.

Das alle drei Linien im obigen Chart gemeinsam fallen, das hatten wir - mit Ausnahme der Asienkrise 1998 - noch nicht. Die Geldpolitik, so kann man es vereinfachen, wirkt nicht mehr! Das Einzige, was Herr Drghai und seine Kollegen mit ihrer wahnsinnigen Politik erreichen, ist Banken und Versicherungen - und letztlich auch die gesamte soziale Sicherung der Bürger - durch Anwendung einer untauglichen Medizin im Übermaß zu schwächen.

Die aktuelle Marktschwäche verdeckt also viel wichtigere ökonomische Prozesse, als diese unmittelbar durch einen Brexit zu erwarten sind. Nach dem 23. Juni, wenn sich die Märkte wohl so oder so nach einigen Tagen wieder beruhigt und auf einem Niveau eingependelt haben, wird dieses strukturelle Problem uns viel mehr und nachhaltiger beschäftigen. 

*Link zum Text: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/fruehaufsteher/toyota-finance-bricht-rekord-mit-niedrigstem-zinssatz-14273530.html 

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