23. April 2020
Die Corona-Krise hat tiefgreifende Auswirkungen auch auf das wirtschaftliche Leben. Kein Wunder, dass sich mehr und mehr auch Wirtschaftswissenschaftler und Marktanalysten mit den Daten zur Pandemie und Gesundheitsstatistiken beschäftigen.
Damit solche Analysen zu verwendbaren Ergebnissen führt, ist eine Kenntnis der Daten und Datenquellen und eine sichere Anwendung der statistischen Methoden wichtig. Wie leicht man hier irren kann und Risiken falsch einschätzt, hat u.a. der Berliner Professor Gerd Gigerenzer in seinen Publikationen schon oft eindrucksvoll dargelegt.
Ein unterschätztes Phänomen in diesem Zusammenhang hat aber eine psychologische Ursache und diese möchten wir hier näher betrachten. Es geht um das Phänomen der „selektiven Wahrnehmung“.
Um selektive Wahrnehmung handelt es sich in der Psychologie, wenn die Wahrnehmung durch begrenzte, unterschiedliche oder einseitige Aufmerksamkeit im Hinblick auf die angebotenen Informationen oder Reize eingeschränkt ist.
Dies trifft in Krisensituationen, wo einzelne Themen besonders hervorstechend („salient“) sind, grundsätzlich als Problem zu. Anleger, Medien und Analysten neigen in solchen Situationen zu Überinterpretationen und verstärken damit möglicherweise vorhandene Emotionen.
Wenig bekannt ist, dass die Neigung zur selektiven Wahrnehmung auch bei Vorliegen einer kognitiven Dissonanz stark erhöht ist. Unter kognitiver Dissonanz versteht man einen Zustand, bei dem aus Sicht des Probanden die Dinge nicht so laufen wie gedacht.
Ein solcher Zustand ist grundsätzlich dann gegeben, wenn wir einen Verlust bewältigen müssen. Beispielsweise kauft Anlegerin A eine Aktie, die kurz danach ohne Nachrichten fällt. Das hat die Anlegerin so nicht erwartet und es ist leicht, nun diesen Umstand verdrängen zu wollen. Anleger neigen in solchen Zeiten gerne dazu, nur solche Nachrichten zur Kenntnis zu nehmen bzw. übermäßig zu betonen, die ihre Ansicht bestärken.
Fünf Phasen der Verlustbewältigung
Durchlaufen wir einen Verlust, geschieht dies üblicherweise in fünf Phasen, die von der Psychologin Elisabeth Kübler-Ross beschrieben wurden:
- Leugnen
- Zorn
- Feilschen
- Depression
- Akzeptanz
Die Phase des Leugnens ist typischerweise diejenige, in der die selektive Wahrnehmung stattfindet.
Aktuell durchlaufen alle Menschen weltweit mehr und weniger einen solchen Verlustbewältigungsprozess. Denn durch die Corona-Krise verlieren wir alle derzeit wirtschaftliche Sicherheit und persönliche Freiheiten.
Wir sollten also damit rechnen, dass so manche Zeitgenossen, die sich in der Stufe des Leugnens befinden, Zahlen und Statistiken zur Corona-Krise möglicherweise selektiv wahrnehmen und damit falsch interpretieren. Das äußert sich dann je nach Standpunkt als "Verschörungstheorie" oder "Lückenpresse".
Ein solches Beispiel einer statistischen Fehlinterpretation haben wir auf Youtube gefunden. Hier äußerte sich der Wirtschaftsprofessor Dr. Homburg zur (Über)-Sterblichkeit von Menschen in Europa. Welche Schlussfolgerungen er gezogen hat, können Sie sich im Video ab Minute 10:30 selbst anhören. Wir erachten diese Interpretation als selektiv und kommen zu ganz anderen Schlüssen als er.
Unser Blick auf die Daten
Nachfolgend gehen wir auf die Argumentation von Prof. Homburg ein und zeigen auf, dass wir zu anderen Schlüssen kommen. Wir denken, dass Herr Homburg die Daten selektiv und damit falsch interpretiert.Statistische Abdeckung
Zunächst betrachten wir die Grafik zur Abdeckung der Daten / Map (zum Vergrößern anklicken):
Dieses Bild zeigt, dass die EuroMOMO Daten* nicht alle Länder umfassen. Halb Europa fehlt. Schon dieser Umstand wird im Video nicht erwähnt. Dennoch werden Schlüsse für Deutschland gezogen. Ok, verziehen. Betrachten wir die Daten weiter für die Sterblichkeit im Teiluniversum.
Analyse der Gesamtdaten
Die nachfolgenden Charts sind sogenannte z-Score-Charts. Sie zeigen die Abweichung der Sterblichkeit im betrachteten Teiluniversum gegenüber der durchschnittlichen Sterblichkeit und unter Einbeziehung der Volatilität der Sterblichkeit. Die Abweichung wird in z-Scores ausgedrückt. Werte größer +/-2 zeigen eine deutlich überdurchschnittliche Aktivität an.
Im Video wird nun behauptet, dass die aktuelle Sterblichkeit dem einer normalen Grippe entspräche und wir uns in der „üblichen, saisonalen Welle“ befänden. Wie kommt der Herr Professor zu so einer Interpretation? Wir hatten 2016-2018 relativ starke Grippewellen und in diesem Winter eine milde. Sehr schön ist dies in den Charts zu sehen. Ebenfalls ist zu sehen, dass die „Peaks“ dieser Wellen sogar einem Trend folgen, die Grippewellen scheinbar von Jahr zu Jahr schwächer wurden. Die Welle 2019/2020 befand sich, wie man ebenfalls leicht sehen kann, bereits im typischen Abklingen (Februar 2020) um dann aber einen scharfen Anstieg im Februar/März auszubilden. Dieser „Ausbruch“ sieht schon optisch nicht normal aus.
Auch die Dynamik des Anstiegs ist untypisch. Wie Sie aus dem Chart leicht erkennen können, steigen und fallen Grippewellen wesentlich stetiger und benötigen viel mehr Zeit. Doch Prof. Homburg behauptet im Video weiter, dass der Rückgang der Sterblichkeit am aktuellen Rand auch „normal“ wäre, also zum normalen Grippegeschehen gehören würde. Glauben Sie, Herr Professor, das wirklich? Oder ist der scharfe Rückgang nicht doch die Folge eines erheblichen Eingriffs der Staaten? Wo stünden wir heute ohne Eingriff? Bestimmt nicht besser…
Wenn man aus diesem Chart etwas herauslesen will, ist es die günstige Entwicklung bei Kindern. Die Charts scheinen einen Hinweis darauf zu liefern, dass das, was man Island herausgefunden hat, eventuell wirklich der Fall ist: nämlich das Kinder praktisch nicht ernsthaft erkranken bzw. nicht wesentlich am Infektionsgeschehen beteiligt sind.
Interessant ist auch, dass im Video ein anderer Aspekt überhaupt nicht in Betracht gezogen wird, nämlich dass die Sterblichkeit durch die aktuellen Maßnahmen ("lockdown") wahrscheinlich sogar positiv verzerrt ist. Z.B. fehlen derzeit viele Unfalltote aus dem Straßenverkehr oder durch Arbeitsunfälle. Aus Thailand weiß ich, dass dort kaum noch alkoholbedingte Unfälle passieren, die sonst an der Tagesordnung sind. Denn die Bars sind geschlossen und die Leute bleiben Abends zu Hause.
Analyse einzelner Länder
Wäre das vorstehende nicht schon genug um die selektive Interpretation zu belegen, wird das Bild vollständig, wenn wir die Entwicklung in einzelnen Ländern betrachten. Auch dies ist möglich.
Ich habe erhebliche Zweifel, ob Herr Homburg überhaupt einen Blick auf die einzelnen Länder geworfen hat. Und wenn ja, wie kann man dann dennoch behaupten, dass die Sterblichkeit in Frankreich, Spanien oder Italien „normal“ ist/war? Oder das Länder wie Schweden wirklich besser fahren wie beispielsweise Österreich?!
Fazit
Wir leben in Zeiten, in denen den einen "Verschwörungstheorien" und den anderen "Lücken in der Berichterstattung" vorgeworfen werden. Selbst die sogenannten Faktenchecker sind davon nicht befreit. In vielen Fällen dürfte es sich jedoch "nur" um selektive Wahrnehmung handeln. Diese tritt immer dann gerne in Erscheinung, wenn die Emotionen hochkochen oder Menschen einen Verlust zu bewältigen haben. Ja, manchmal laufen die Dinge nicht so wie gedacht. Doch genau dann ist eine gründliche Recherche notwendig, um voreilige, voreingenommene oder schlicht falsche Schlussfolgerungen zu vermeiden.
Selbst geschulte Wirtschaftswissenschaftler sind hiervon nicht gefeit. Schlechte Wirtschaftsprognosen aufgrund selektiver Wahrnehmung sind nicht schön, aber leider an der Tagesordnung. Dies wissen wir als Behavioristen nur allzu gut. Begeben sich Analysten jedoch auf ein Feld außerhalb ihrer eigenen Domäne, darf man ein höheres Maß an Sorgfalt erwarten, wie das, was uns in dem betrachteten Video geboten wurde. Denn dieses Video wurde bereits mehr als 1,1 Mio. angeschaut. Hoffentlich kostet dies keinen Menschen unnötig das Leben, nur weil ein Wissenschaftler der selektiven Wahrnehmung erlegen ist.
* Sie finden alle Daten und eine Beschreibung der Berechnung unter dem angegebenen Link